„Am 30. Januar 1933, dem Tag von Hitlers Machtergreifung, hatten sich vor dem Rathausbalkon einige Menschen versammelt und beobachteten einige Herren in brauner Uniform und Hakenkreuzarmbinden beim Befestigen einer Fahne am Fahnenmast, die dann ausgerollt wurde. Die Fahne, die das Stadtbild für die nächsten Jahre prägen sollte. Einer hielt eine kurze Rede, dann wurden die rechten Arme gehoben und das Horst-Wessel-Lied ertönte.
Hans, der gerade die Schulgasse heruntergekommen war, erhob ‚als guter Deutscher‘ und wie er es oft genug gesehen hatte, auch die Hand und sang mit. Ein Mann auf dem Rathausbalkon erblickte ihn jedoch und schrie, dass der Judenbengel abhauen solle, wenn ihm das Leben lieb sei.
Hans wusste jedoch nicht, was er verbrochen hatte und behutsam erklärte man ihm Zuhause, dass die Machtübernahme weitgreifende Folgen für ihn und seine Familie haben würde.“[1]Brief von John Mc Intyre (Hans Norbert Schiff) an Anna Maria Zimmer Oktober 1993
„Genauso erging es mir und meinen Schwestern. Wir verstanden es nicht, selbst meine Mutter wollte es nicht verstehen, wir waren Deutsche mit jüdischer Religion, es war unser Land. Sie meinte manchmal sogar, dass wir selbst eigentlich jüdische Nazis seien. Auch wir liebten unser Vaterland über alles. Doch die Nazis ließen uns spüren, dass wir in ihrem Deutschland eine ganz andere Rolle spielten. Bald gingen die Prügelleien los, 40 Jungs auf dem Schulhof, die auf mich einschlugen, im Unterricht änderte das Bild sich ebenfalls nicht, nur dass die Prügel von der anderen Seite kam. Die rote Sandsteinmauer auf dem Schulhof bekam bald den Namen ‚Klagemauer‘, da wir Juden uns meist dort herumdrückten, sodass wir wenigstens nicht von hinten angegriffen werden konnten. Aber dann, die Prügel auf dem Weg nach Hause. Nach einer Zeit traute ich mich gar nicht mehr allein aus dem Haus, und wenn, lief ich wie eine Katze mit eingezogenem Schwanz durch die Gegend und schaute um jede Ecke. Als dann auch noch mein bester Freund von gegenüber mich heimlich in seinen Keller holte und mir sagte: Karl, wir können nicht mehr zusammen spielen, wenn ich mit dir spiele, spielen die anderen Kinder nicht mehr mit mir, war das für mich der finale Niederschlag. Ich konnte einfach nicht verstehen, was an mir anders war, daß alle Menschen so mit mir und meiner Familie umgingen. Ich stand vor dem Spiegel, schaute mich an und fragte mich, was an mir anders war. In der Schule wurde immer von dem bösen Juden mit der Hakennase gesprochen, ich fand meine Nase aber ganz schön, ich strich über das Nasenbein, da war kein Haken, und andere Kinder hatten auch abstehende Ohren, daran konnte es also auch nicht liegen. Ich ging dann für einige Jahre in den Süden von Deutschland für eine Ausbildung als Gärtner, die Zeit tat mir gut, als ich zurückkam, hatte ich gelernt, böse zu kämpfen. Ich wurde noch verprügelt, aber jetzt schlug ich zurück.
Als die Situation für Juden in Deutschland fast ausweglos erschien, verließ ich, 1939, meine doch so geliebte Heimatstadt und emigrierte nach Amerika, der Rest meiner Familie zog nach Israel.
In der USA stellte ich mich der Armee zur Verfügung und kam in den letzten Kriegsjahren als amerikanischer Soldat zurück nach Deutschland. Ich bekämpfte nun die Menschen, die mich vernichten wollten, und ich bezwang sie. Zuerst war ich im Süden von Deutschland aktiv, aber dann, nach Kriegsende, kam ich zurück in meine Heimatstadt. Dort war ich in der sogenannten Entnazifizierung aktiv, doch ich konnte in dieser Situation keinen Frieden mit der Stadt und ihren Menschen machen, wie auch, denn das, was unserer Religion angetan wurde, war einfach unbeschreiblich. Ich ging zurück in die USA.“[2]Karl Goldschmidt (Hg.):Plaut Family History, 1946 und Gespräch mit Anna Maria Zimmer am 20.10.2015